Eigen- und Fremdschutz - Ich dachte ich kann das

Am nächsten Tag hieß es dann nach einem Eingriff, dass ich unten im ambulanten OP einem Oberarzt assistieren sollte, weil es etwas komplex wäre und niemand anderes zum Helfen zur Verfügung stehen würde. In der Erwartung zwei Haken halten zu müssen, ging ich sofort nach unten.

Eigen- und Fremdschutz - Ich dachte ich kann das

Ich habe eine dreijährige Ausbildung zur Operationstechnischen Assistentin gemacht und zwei Monate nach Ausbildungsende meinen Medizinstudienplatz erhalten. Zwei Jahre später durfte ich meine erste Famulatur machen und entschied mich für ein chirurgisches Fach. "Da kann ich wenigstens richtig helfen" - dachte ich.

Um trotzdem ein Fach zu nehmen, was ich noch nicht kannte, entschied ich mich für eine zweiwöchige Famulatur in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie. Ich hatte bei einem Hospitationstag den OP und das Team bereits kennengelernt und startete voller Motivation und Vorfreude.

Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie

Die MKG ist ein Fachrichtung, für die man sowohl Human- als auch Zahnmedizin studieren muss. Fängt man mit Humanmedizin an, so kann das Zahnmedizinstudium verkürzt werden. Außerdem kann man mittlerweile das zweite Studium und die Facharztausbildung parallel absolvieren. Ganz schön viel Arbeit also!
Es handelt sich um ein vollchirurgisches Fach (sofern man Zahnarzttätigkeiten als chirurgisch zählt), dass eine breite Facette an Klientel hat.
Für eine chirurgische Famulatur würde ich die MKG empfehlen, da man immer nah am Situs steht und somit auch tatsächlich sieht was passiert (Neidischer Blick der 2. Assistenz bei der Hüft-TEP 😉). Nachteil ist, dass Kopf und Zähne in der Humanmedizin meist nicht so ausführlich gelehrt werden und man wahrscheinlich privat vorarbeiten muss. 

Im OP kenne ich mich gut aus. Ich bin für den Regelbetrieb ausgebildet und lege viel Wert auf Patienten- und Eigenschutz. Echte Notfälle, in denen man nur wenige Minuten Zeit hat um eine OP vorzubereiten, sind mir noch nicht begegnet. Auch mein Ambulanzeinsatz beschränkte sich auf Heimwerker mit kleine Schnittverletzungen und Kindern mit aufgeschlagenen Knien.

Nun durfte ich direkt bei der Reposition von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten Platten anschrauben, koagulieren, nähen. Die Fälle reichten von rein ästhetischen Eingriffen über Kieferchirurgie zu vollständige Neck-Dissections bei fortgeschrittenen Tumorleiden.


Am nächsten Tag hieß es dann nach einem Eingriff, dass ich unten im ambulanten OP einem Oberarzt assistieren sollte, weil es etwas komplex wäre und niemand anderes zum Helfen zur Verfügung stehen würde. In der Erwartung zwei Haken halten zu müssen, ging ich sofort nach unten.

Ich stellte mich bei Eintritt in den Raum vor und führte eine Händedesinfektion durch. Mir gegenüber eine voll verkleidete Ambulanzschwester und der Oberarzt im Kasack, mit Haube und sterilen Handschuhen am Patienten stehend. Der Patient blutete stark an der Kopfhaut und es war großflächig Schädelknochen zu sehen. Irritiert, dass dieser Eingriff wirklich in Lokalanästhesie durchgeführt wurde, ging ich an der aufgesetzten Liege vorbei und musste feststellen, dass der circa 80jährige Patient tatsächlich ansprechbar war. Er hatte eine Vielzahl von benignen Tumoren auf der Kopfhaut, die teilweise bereits in vorherigen Eingriffen reseziert worden waren.

"Was kann ich tun?", fragte ich den Oberarzt. "Schön, dass Sie da sind. Ziehen Sie sich Handschuhe an und kommen Sie hier her."

Ich tat genau das. Nur das.

Nach wenigen Minuten stellte ich fest, dass ich sämtliche Eigen- und Patientenschutzmaßnahmen außer Acht gelassen hatte. Mein Kasack hatte bereits einige Blutstropfen abbekommen und auch aus hygienischer Sicht war mein Aufzug absolut nicht ausreichend. Nach einiger Zeit kam ein Assistenzarzt hinzu, der sich direkt beim Eintreten eine Haube aufzog und sich dann ebenfalls ohne Kittel zu uns stellte. Wir resezierten die verbleibenden Tumore und verbanden den Kopf.

Nach dem Eingriff versuchte ich schnell in die Umkleiden zu kommen um meine ehemals weiße Dienstkleidung auszutauschen. Ich ärgerte mich. Warum hatte ich so schnell mein gelerntes und gefestigtes Wissen über den Haufen geworfen?

💡
Für die meiste OPs sind immer OP-Kleidung, Astrohaube, sterile Schutzkleidung und sterile Handschuhe erforderlich. Einige Abteilungen (wie z.B. die Gynäkologen) verzichten (leider) auf Kittel. Generell gilt: Was könnte alles schmutzig werden? & Möchte ich das wirklich mit nach Hause nehmen? Insbesondere das Fehlen der Schutzbrille merkt man oft erst, wenn die ersten Blutspritzer im Raum herumfliegen.

Neben der Frage, warum ich nicht selbst darauf gekommen war, zu fragen, wo ich Haube und Kittel finden würde, beschäftigte mich vor allem die Frage, warum ich mir den Oberarzt als Vorbild gewählt hatte, obwohl mit der Ambulanzschwester ja ein gutes Vorbild vor Ort war. Blinder Gehorsam ist eigentlich überhaupt nicht mein Stil.

Im Endeffekt kann ich für mich aus der Situation folgende Regeln mitnehmen, um in Zukunft mein Wissen zuverlässiger anwenden zu können:

1. Auch wenn ich mich für tough halte: Es gibt immer etwas was einen noch auf dem falschen Fuß erwischen kann. In Situationen, in denen ich irritiert bin, möchte ich in Zukunft erst eine Sekunde inne halten, bevor ich mich wieder der Aufgabe widme.
2. Ein Befehl von einer mir übergeordneten Person schließt meist eine Reihe von Anweisungen ein. In Zukunft möchte ich mich fragen: Was ist mit dieser Aussage wirklich alles gemeint? Was muss immer vorher erledigt werden und wird deswegen nicht gesagt?
3. Vorbilder sind Puzzles, keine Gemälde. In Zukunft möchte ich mir jeweils den besten Teilaspekt in meinem Umfeld abgucken und mich nicht davon beirren lassen, dass "alle anderen es ja auch so tun". Am Ende muss ich allein Verantwortung für meine Tätigkeit übernehmen und alle mir möglichen Standards erfüllen.